"Wir helfen ihnen, ihre Traumata zu überwinden"
Seit sechs Jahren ist Pater Alejandro Leon SDB Provinzial im Mittleren Osten. Der heute 44-Jährige hat den Krieg in Syrien, die Corona-Pandemie und das Erdbeben 2023 in Nordsyrien miterlebt. Die Zeit in Syrien hat ihn sehr bewegt. Im Sommer 2024 wird er nach Alexandria in Ägypten gehen. Im Interview erklärt der gebürtige Venezolaner, was die Menschen in Syrien am meisten brauchen.
Wie ist die aktuelle Situation in Syrien?
„Seit dem letzte Erdbeben ist wieder eine gewisse Normalität eingekehrt. Die wirtschaftliche Situation ist allerdings katastrophal. Die Inflation macht allen zu schaffen. Die syrische Lira hat immer mehr an Wert verloren. Die Menschen müssen mehrere Jobs haben, um zu überleben. Ein Beamter verdient rund 40 Euro im Monat. Er bräuchte aber 400 Euro monatlich, um mit seiner Familie zu überleben. Die Mehrheit der Bevölkerung ist arm. Christliche Familien leben in Armut, aber es gibt auch viele muslimische Familien, denen es noch schlechter geht.
Wie geht es den Kindern?
Die Straßen sind voll von Kindern. Sehr viele Kinder suchen im Müll nach Essen. Vor allem Kinder aus muslimischen Familien. Das hat sich in den letzten Jahren erschreckend entwickelt. Auch schon kleine Kinder sind dabei. Meistens Jungen, aber auch Mädchen sind auf der Straße. Wir haben auch ein soziologisches Problem. Es gibt deutlich mehr Mädchen und Frauen als Männer. Eine ganze Generation an jungen Männern fehlt. Positiv ist, dass viel mehr Mädchen als früher die Universität besuchen.
Was sind die größten Herausforderungen?
Es ist sehr schwierig, Arbeit zu finden. Das desillusioniert die jungen Menschen. Viele sind müde und glauben nicht mehr an eine Zukunft. Hinzu kommt, dass viele Menschen traumatisiert sind. Andauernde Gewaltkonflikte, Krieg, Erdbeben und Corona. In dieser Zeit sind viele Ängste entstanden. Als Don Bosco nehmen wir das Thema sehr ernst und begleiten die Menschen auch seelsorgerisch. Für Kinder bieten wir an unseren drei Standorten in Damaskus, Aleppo und Kafroun Aktivitäten und Freizeitprogramme an. Damit erreichen wir mehr als 2.500 Mädchen und Jungen. Wir sind für sie da und hören ihnen zu und vermitteln auch professionelle Hilfe. Leider gibt es immer noch viel zu wenig Psychotherapeuten.
Sind auch die Don Bosco Mitarbeitenden betroffen?
Auch die Salesianer Don Boscos und ihre Mitarbeitenden nehmen an Programmen zur Traumabewältigung teil. Für mich persönlich war das sehr wichtig. Wir wurden von Psychologinnen und Psychologen der Universität Venedig betreut. Dort wurde ein Programm für uns und unsere Mitarbeitenden entwickelt. Die erlittenen Traumata zu überwinden, stellt eine der größten Herausforderungen für die Menschen in Syrien dar.
Was hoffen Sie für die Zukunft?
Wir alle haben alle sehr gelitten: Christen und Muslime. Wichtig ist mir, dass die Menschen sehen, dass es andere Menschen gibt, denen es noch schlechter geht. Und dass sie Solidarität mit diesen Menschen zeigen, Nächstenliebe. Den meisten muslimischen Familien geht es noch schlechter als den Christen. Sie brauchen unsere Hilfe. Wir müssen uns annähern, den Dialog suchen. Wenn wir nicht in den Dialog treten, dann steht in einigen Jahren der nächste Krieg bevor. In Aleppo hat sich durch die Krisen ein sehr positives Klima entwickelt. Ich habe festgestellt, dass sich die Menschen mehr helfen. So gesehen hat das Trauma zu einem positiven Erwachen geführt. Es macht mich glücklich zu sehen, dass die Menschen an andere denken.
Das Interview führte Kirsten Prestin im Mai 2024.